Softcover, 215 Seiten, sw Abbildungen, Ulm2005, neu
Besprechung: (Preetoriusstiftung)
Ähnlich wie bei vielen anderen Grundlagen tibetischer Kultur, hat Songtsen Gampo (7. Jh), der erste historische König Tibets, auch der tibetischen Medizin entscheidende Impulse gegeben. Glaubt man tibetischen Historikern, so holte Songtsen Gampo drei Ärzte an seinen Hof, einen aus China, einen aus Indien und einen aus dem Iran. Das Zusammenfließen ihres Wissens gipfelte, so sagt man, in einem Werk in tibetischer Sprache. In den Jahrhunderten danach hat sich das „Wissen vom Heilen“ zu einem wichtigen Zweig tibetischer Wissenschaft entwickelt und eine reiche medizinische Literatur hervorgebracht. Unter dem Fünften Dalai Lama, der im Jahre 1642 die Herrschaft über das kurz zuvor wiedervereinigte Tibet übernahm, erlangte die tibetische Medizin schließlich eine Reife, die sich nachgerade als klassisch bezeichnen lässt. Doch die Idee, Medizin und Praxis zu kodifizieren und theoretisch wie praktisch in einem einzigen Lehrgebäude zusammenzuführen, konnte erst von Sangye Gyatso (1653-1705), dem spirituellen Sohn und letzten Regenten des Großen Fünften verwirklicht werden. Dieses Multitalent (Philosoph, Astrologe, Politologe und nicht zuletzt ein berühmter Arzt) verfasste den „Blauen Beryll“, einen Kommentar zu den „Vier Tantras“, dem grundlegenden Werk tibetischer Medizin, gab den Korpus der berühmten 79 medizinischen Thankas in Auftrag, und gründete 1694 auf dem Tschagpori, dem Eisenberg in Lhasa, eine Medizinschule. Sie wurde zur ersten auf die medizinische Lehre und Praxis spezialisierten tibetischen Institution, existierte über 250 Jahre und wurde 1959 von chinesischen Bomben in Schutt und Asche gelegt. Heute steht auf dem Eisenberg, gegenüber dem Potala-Palast, eine chinesische Fernsehstation mit einer das ganze Tal überragenden Antenne. Wie war nun das Leben in dieser tibetischen Medizinhochschule? War es mehr ein Kloster oder mehr theoretisch medizinisches Lehrinstitut? Wie wurde dort studiert, behandelt und gelebt? Antworten auf diese und viele andere Fragen rund um den Tschagpori geben Robert Gerl und Jürgen Aschoff in dem Buch, das auf solider Feldarbeit und Quellenforschung beruht. Dabei war es ein Glück für die Autoren, dass sie in Lhasa und in Dharamsala drei alte Ärzte befragen konnten, die ihre Ausbildung noch auf dem Tschagpori begonnen hatten, denn außer einer, allerdings recht gründlichen und im tibetischen Originaltext abgedruckten Abhandlung des letzten Direktors der Medizinhochschule gibt es so gut wie keine tibetische Literatur über Leben und Lehren auf dem Tschagpori. So aber entsteht, begleitet von leider sehr schlecht wiedergegebenen historischen Aufnahmen, ein lebendiges Bild von der Anlage, ihrer Einrichtung und Ausstattung, und vor allem davon, wie dort mit hoher Professionalität Ärzte ausgebildet wurden. Dem äußeren Anschein nach ein typisches tibetisches Kloster mit großer Versammlungshalle, Tempeln und Kapellen, Wohngebäuden, Hofraum und Küche, waren alle notwendigen Einrichtungen für ein funktionierendes medizinisches Ausbildungs- und Behandlungszentrum vorhanden, Bibliothek, Druckerei für medizinische Texte, Apotheke, Lehr-, Behandlungs- und Unterrichtsräume. Dass die letzteren klein und in die Wohngebäude integriert waren, hat mit der ganz tibetspezifischen Methode zu tun, medizinisches Wissen vorwiegend mündlich, in kleinen Gruppen und im sehr persönlichen Lehrer-Schüler Verhältnis zu vermitteln. Nicht mehr als zwei oder drei Studenten, in der Regel junge Mönche aus allen Regionen Tibets, waren einem Lehrer zugeordnet, der sie während der gesamten acht- bis neunjährigen Studienzeit betreute und auszubilden hatte. Der gesamte Studiengang war bis in den Ablauf einzelner Tage streng geregelt, umfasste Philosophie, Astrologie, das Gesamtwissen vom Heilen und die buddhistische Lehre. Bemerkenswert ist, dass alle tibetischen Glaubensrichtungen gelehrt wurden und sogar Laien zugelassen werden konnten, obwohl der Tschagpori eine Einrichtung der Gelugpas war. Diese ökumenische Einstellung ist ein deutlicher Beleg für die hohe Bedeutung, die die Medizin im alten Tibet hatte. Entsprechend genossen Ärzte in der tibetischen Gesellschaft hohes Ansehen und sonst nur dem Adel vorbehaltene Privilegien wie etwa das Tragen seidener Gewänder. Die Ausbildung auf dem Tschagpori brachte berühmte, weit über die Grenzen Tibets hinaus bekannte Ärzte hervor, und die Direktoren dieser medizinischen Hochschule waren in der Regel auch die Leibärzte der Dalai Lamas. Das lesenswerte Buch über die Organisation des tibetischen Heilberufs behandelt einen in der Literatur über die tibetische Medizin oft übersehenen Aspekt.
Autor: | Robert Gerl, Jürgen C. Aschoff |